Entwicklungsgeschichte der Sinologie an der Universität Wien

Als erster Wiener, der sich wissenschaftlich mit China beschäftigte, gilt der Botaniker Stephan Ladislaus Endlicher (1804 – 1849). Er eignete sich Chinesisch im Selbststudium an und erteilte privat chinesischen Sprachunterricht. Im Jahr 1843 wurde sein Schüler August Pfitzmaier (1808 – 1887) Dozent für die chinesische Sprache an der Universität Wien. Doch bereits fünf Jahre später, 1848, verließ dieser die Universität und wurde Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. In den folgenden Jahren bemühten sich einige Sinologen und Wissenschaftler erfolglos um eine Dozentur an der Universität Wien: Leopold Karl Woitsch (1868 – 1939) wurde im Jahr 1908 Privatdozent für chinesische Sprache an der Konsular Akademie; Arthur Edler von Rosthorn (1862 – 1945) studierte in Oxford Chinesisch und lehrte am Orientalischen Institut der Universität Wien. Im Jahr 1922 bekam er schließlich die Honorarprofessur für Sinologie an der Universität Wien, welche ihm jedoch 1939 von den Nationalsozialisten aus politischen Gründen entzogen wurde.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Chinesisch-Unterricht an der Universität Wien erst wieder in den 1950er Jahren aufgenommen. Die Sinologie als eigenes Fach wurde jedoch erst im Zuge der Universitätsreform etabliert – unter der damaligen Ministerin Firnberg im Jahr 1972 mit der Berufung von Otto Ladstätter (1933 – 2005) auf den Lehrstuhl. Der Lehrbetrieb wurde im Studienjahr 1973/74 mit ein paar wenigen Studierenden aufgenommen und der Schwerpunkt in Lehre und Forschung auf das China der Gegenwart gelegt. Ladstätter befasste sich wegweisend mit der wissenschaftlichen Erforschung und universitären Lehre der modernen chinesischen Sprache.

Im Jahr 1988 erhielt Erich Pilz (1941 – 2010) eine außerordentliche Professur für „Sinologie unter besonderer Berücksichtigung der chinesischen Geschichte“ an der Universität Wien. Seine wissenschaftlichen Leistungen umfassen Beiträge zu Fragen der chinesischen Historiografie, der neueren chinesischen Geschichte und Gesellschaft sowie der Stadtforschung und Stadtentwicklung in China.

Ab Mitte der 1990er Jahr kam es im österreichischen Hochschulwesen zu großen Veränderungen. Im Zuge dessen wurde das Alte Allgemeine Krankenhaus zu einem Campus der Universität umgebaut.  Am 01.01.2000 wurde aus den früheren Instituten für Koreanologie, Japanologie und Sinologie schließlich das Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien gegründet, das seitdem seinen Sitz auf dem Campus im Alten AKH hat. Das Fach Sinologie hat die zunehmende weltweite Bedeutung Chinas früh erkannt und in seiner Ausrichtung auf diese Herausforderungen reagiert: Neue wissenschaftstheoretische Entwicklungen sowie die individuellen Profile der einzelnen Lehrstuhlinhaber wurden aufgenommen. Die Sinologie in Wien wurde zu einem anerkannten Zentrum der gegenwartsbezogenen Chinaforschung mit internationaler Ausstrahlung entwickelt.

Die Nachfolge Ladstätters für die Sinologie trat im September 2002 Susanne Weigelin-Schwiedrzik an. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten der Geschichte Chinas des 20. Jahrhunderts, Historiografie, Literatur sowie Entwicklungsökonomie und Globalisierungsstrategie. Richard Trappl (2003) und Agnes Schick-Chen (2006) erhielten außerordentliche Professuren für Sinologie mit den Schwerpunkten Literatur (Trappl) und Recht (Schick-Chen). Im Dezember 2009 wurde außerdem auf Initiative von Astrid Lipinsky das Vienna Center for Taiwan Studies gegründet.

Mit Februar 2013 wurde ein neuer Lehrstuhl für Sinologie mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung am Institut für Ostasienwissenschaften an der Universität Wien eingerichtet, welchen Christian Göbel antrat. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die chinesische Politik, Verwaltung und Gesellschaft sowie mit Demokratisierung und Antikorruption in Taiwan. Eine neu geschaffene Tenure-Track-Stelle für Staat und Gesellschaft des modernen Chinas wurde von Felix Wemheuer (2011 – 2014), Sabrina Habich-Sobiegalla (2016 – 2017) und Heinz Christoph Steinhardt (seit 2018) besetzt.

Heute verfügt die Sinologie am Institut für Ostasienwissenschaften über zwei Professuren, eine Dozentenstelle, eine Tenure-Track-Stelle, zwei Senior-Lecturer-Positionen, zwei Post-Doc-Stellen und eine Reihe von Prä-Doc-Positionen. Sie gehört damit zu den größten Standorten der modernen Chinaforschung im deutschsprachigen Raum – nicht nur, was die Zahl der Studierenden betrifft, sondern auch bezogen auf die Möglichkeiten, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern.

Die Geschichte der Sinologie an der Universität Wien wurde wissenschaftlich aufgearbeitet in:

Führer, Bernhard (2001) Vergessen und verloren. Die Geschichte der österreichischen Chinastudien. Bochum: Projekt Verlag.

https://e-book.fwf.ac.at/o:200

Chinesische Übersetzung:

Führer, Bernhard 傅熊  (Autor), Wang Yan 王艳, ÜbersetzerIn) 2011. 忘与亡 : 奥地利汉学史. Shanghai: Huadong Shifan Daxue Chubanshe.

https://ubdata.univie.ac.at/AC09380494